Janine läuft knapp 16.000 Kilometer im Jahr oder umgerechnet zu Fuß zum Südpol
7.1.2024 Damm. Von Deutschland aus zum Südpol sind es 15.735,20 km. Kennen Sie jemanden, der diese Strecke jedes Jahr zu Fuß geht?
Nein?
Aber es gibt so jemanden. Sie heißt Janine, wohnt in Schermbeck-Damm und ist 26 Jahre alt. Ihre rotblonden Haare schauen noch ein Stück unter ihrer Mütze hervor, wenn sie mit dem typischen Klick-Klack Geräusch ihrer Walkingstöcke und in Barfußschuhen zu ihren täglichen Runden aufbricht.
Rechnen sie gerade im Kopf schon durch, wie viele Kilometer sie dann am Tag zurücklegen muss, um am Ende des Jahres auf über unfassbare 15.000 km zu kommen?
Es sind regelmäßig 42 km und oft sogar über 50 km täglich. Die morgendliche Runde ist ca. 32 km lang. Und die „kleine“ Nachmittagsrunde dann „nur“ noch ca. 10 km lang.
„Zwischendurch“, erzählt Janine, „also mittags, laufe ich dann noch die Hunderunde, weil Kayla, meine kleine Hündin, erst 8 Monate alt ist und nur entspannt spazieren gehen darf.“
Warum macht „man“ so etwas Extremes? Genau mit dieser Frage wird die junge Frau fast täglich auf ihren Runden konfrontiert. „Ich sage dann immer“, so erzählt Janine, „dass es mir einfach guttut und mir die Struktur gibt, die ich in meinem Leben brauche. Natürlich geht es noch um mehr, aber das ist auf der Straße nicht mal so eben erklärt.“
Es gibt Menschen, die ihren Herausforderungen auf ungewöhnliche Weise begegnen und nicht selten ist es der Sport, der als Mittel zur Bewältigung dient.
Das Laufen ist für Janine weit mehr, als nur körperliche Betätigung. Wie für viele Menschen, hat das Laufen auch für sie eine heilende Wirkung. Und die wirkt nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist. Die kontinuierliche Bewegung fördert die Ausschüttung von Endorphinen, den sogenannten Glückshormonen, und hilft, Stress abzubauen.
„Während ich laufe“, erklärt Janine, „denke ich nach, reflektiere und verarbeite. Es ist wie eine Art aktive Meditation.“
Gedanken ordenen und das Gefühl von Kontrolle zurückbekommen
Der Rhythmus der Schritte und die gleichmäßige Atmung können dabei helfen, Gedanken zu ordnen und das Gefühl von Kontrolle zurückbringen, dass Janine in ihrem Leben oft vermisst hat. Es gibt eine Reihe von schwierigen Lebenserfahrungen mit denen sie konfrontiert ist. Durch ihren Sport hat sie einen Weg gefunden mit ihren Herausforderungen besser umzugehen.
Ihre Krankengeschichte fing schon im Säuglingsalter an, als bei ihr ein Hydrocephalus festgestellt wurde. Ihr musste ein sogenannter „Shunt“ eingesetzt werden, damit das Gehirnwasser abgeleitet werden konnte, dass sich aufgestaut hatte. Im Lauf der Jahre musste sie einige Operationen über sich ergehen lassen, weil der Shunt mehrfach angepasst und sogar komplett ausgetauscht werden musste.
„Die OPs“, erzählt Janine, „sind nicht das Schlimmste. Die Angst, bei jedem Kopfschmerz, dass wieder etwas sein könnte, die ist richtig schlimm. Und früher auch das Mobbing in der Schule. Die anderen Kinder haben mir absichtlich Basketbälle vor den Kopf geworfen und mich beleidigt. Das hat nicht nur physisch weh getan.“
Außerdem leidet Janine schon seit Jahren unter Rheuma und Arthrose. Eigentlich denkt man bei diesen Krankheitsbildern ja eher an ältere Menschen, aber laut dem DRFZ (Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin), sind allein von den chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, mindestens 20.000 Kinder und Jugendliche bundesweit betroffen.
„Ich hatte immer schon viele Schmerzen“, erzählt Janine, „und war auch immer sehr sensibel. Ich habe Menschen leicht vertraut und bin so oft enttäuscht worden. Freunde habe ich nicht. Meine beste Freundin ist heute Kayla, meine Hündin.“
Als damals das Mobbing in der weiterführenden Schule immer schlimmer wird, bricht Janine das Fachabitur ab. Sie erinnert sich: „Alles war viel zu viel Druck, zu viel Mobbing. Ich habe mich verletzt und ausgebeutet gefühlt. Jeden Morgen mit Bauchschmerzen in die Schule zu gehen ist unerträglich.“
Das Gefühl, nicht angenommen, nicht akzeptiert zu sein, belastet sie sehr. In dieser Zeit fängt sie an regelmäßig Sport zu treiben. Sie reitet, fährt überall nur noch mit dem Fahrrad hin, geht ins Fitnessstudio und joggt täglich zwischen 13 und 16 km. Sie merkt, der Sport tut ihr gut.
„Ich laufe nicht weg, ich habe das Gefühl, dass ich mit mir laufe und zu mir hin. Dass ich ein Ventil gefunden habe, das ich auch brauche. Die Schmerzen, unter denen ich leide, verringern sich durch das Laufen. Von Stunde zu Stunde wird es besser“, erklärt sie, „ich laufe mich über den Tag ein, laufe mich frei. Und das habe ich auch damals schon gemerkt.“
Aktuelle gesundheitliche Situation gerade besonders belastet
Aus dem Joggen von damals ist seit drei Jahren ihre Leidenschaft für das Walken entstanden. Und es ist wichtiger denn je, weil Janines gesundheitliche Situation aktuell besonders belastend ist. Eine seltene Autoimmunerkrankung ist kürzlich diagnostiziert worden. Und eine zweite wird noch untersucht.
Auch vor drei Jahren hat sie schon Schmerzen in den Gelenken. Die Hände sind oft taub und die Finger bläulich verfärbt. Die Rückenschmerzen werden durch das Rheuma auch immer schlimmer. Die ganze linke Seite ist schon betroffen. Rehasport und Physiotherapie lindern die Beschwerden zumindest körperlich etwas.
Im Krankenhaus wird sie dann von Kopf bis Fuß durchgecheckt, aber die Diagnosen sind erschreckend: „Die Ärztin hat überall nur große Baustellen gefunden und gesagt, das ist schlecht, das auch, die Werte auch. Und dann sollte ich auch dableiben. Ich hatte so eine Mischung aus Angst und Hoffnung es könnte auch so noch „weiterlaufen“, darum bin ich nicht im Krankenhaus geblieben. Aber jetzt gibt es diese neuen Diagnosen zu zwei seltenen, unheilbaren Autoimmunerkrankung, die wie eine große dunkle Wolke über mir hängen.“
Die eine Diagnose ist schon sicher, auf das Ergebnis der zweiten Autoimmunerkrankung wartet Janine aktuell noch.
„Ich habe viele Geschichten und Krankheiten, die gerade erst diagnostiziert wurden. Damit muss ich lernen umzugehen. Da kann noch mehr auf mich zukommen. Noch mehr Einschränkungen. Die Lungenqualität kann auch eingeschränkt werden. Das kann von heute auf morgen ausbrechen. Die Krankheiten fangen mit der Haut an. Ich habe immer blaue Hände und Finger. Die Krankheiten betreffen aber auch auf die Organe. Auch die Lebenszeit ist dann begrenzt. 10 bis 15 Jahre bleiben mir dann wohl, wenn die Organe erstmal angegriffen werden.“
Niemand weiß, wann das Leben zu Ende sein wird, aber darauf zu warten, dass eine Krankheit ausbricht, ist eine sehr schwer auszuhaltende Situation.
„Das Laufen hilft mir viel dabei meine Gedanken zu sortieren, mein eigenes Leben zu betrachten und von Anfang an aufzuarbeiten. Ich laufe solange es gesundheitlich geht. Hoffentlich solange ich lebe und Spaß daran habe!“
Ärzte nahmen sie nicht ernst
Als Teenager hat Janine sich schon mit dem Wunsch eine Diagnose üben den Ursprung ihrer Schmerzen zu bekommen, an diverse Ärzte gewandt, die sie aber nicht ernst genommen haben. „Jetzt ist alles zu spät“, sagt Janine. „Ich versuche einfach jeden Tag mitzunehmen und zu genießen, solange ich noch kann. Leider bin ich zu krank, um einen Job zu machen. Ich mache den Haushalt zu Hause für meine Mutter und meinen Bruder und ich laufe eben. Ich lebe irgendwie im Maschinenmodus. Visionen und Wünsche habe ich nicht. Aber ich suche noch danach.“
Janine läuft jeden Tag. Und mit jedem Kilometer schafft sie sich einen Freiraum. Raum, um zu sein, wie sie sein möchte. Einen Raum, um sich zu spüren. Sich mit ihren Gedanken auseinanderzusetzen und sich dadurch auch ein Stück weit von den Belastungen ihres Lebens zu befreien.
„Andere leben ein normales Leben, das kann ich nicht. Aber ich habe mir durch das Laufen eine Möglichkeit erschaffen, damit umzugehen.“
Das Laufen ist ein Lebensstil für Janine geworden und hilft zur Stärkung der eigenen Widerstandskraft. Es ist eine Reise zu sich selbst geworden und eine Form der Selbstheilung.
Bei den vielen Kilometer die Janine täglich läuft, braucht es natürlich auch spezielle Schuhe. „Eine Zeit lang habe ich das Laufen in Sockenschuhen ausprobiert. Die halten 800 Kilometer. Da hat meine Mutter gesagt: „Das ist doch richtig lange, prima.“ „Aber dann haben wir mal kurz im Kopf überschlagen, und festgestellt, dass das nur zweieihalb Wochen sind!!! Jetzt trage ich Barfußschuhe. Die helfen mir dabei weniger Schmerzen zu haben, aber auch die sind nach ca. zwei Wochen bereits durchgelaufen. 26 – 30 Paar Barfußschuhe laufe ich jedes Jahr durch. Das sind weit über 1.000.- Euro pro Jahr. Aber darum weniger laufen- ist keine Option!“
Text Tanne Brodel- Fotos Gaby Eggert