Ilona Soßdorf: „Wir wollten frei sein“
8.11.2019 Schermbeck. Am Abend des 9. November 1989 wurde für die meisten Menschen in der ehemaligen DDR ein Traum wahr. Die Schlagbäume an der deutsch-deutschen Grenze gehen hoch - die Mauer ist offen
Zu diesem Zeitpunkt ist die Familie Soßdorf längst im Westen angekommen, denn sie haben die DDR im Jahr 1982 nach einer missglückten Flucht verlassen können. Ilona Soßdorf die mit ihrer Familie in Schermbeck lebt, verwirklichte im letzten Jahr ihren Wunsch und schrieb ein Buch über ihr Leben.
An die Wiedervereinigung glaubten sie damals nicht. Deshalb machten sich Ilona Soßdorf und ihr Mann Karl-Otto gemeinsam mit den beiden Söhnen (fünf und acht Jahre alt) im Juni 1982 auf den Weg in das freie Westdeutschland. Bis sie jedoch dort ankamen, erlebten sie eine Odysee aus Angst, Verzweiflung und Hoffnung. „Die Nachtwanderung - Das Abenteuer unseres Lebens“ ist eine autobiografische Geschichte einer Flucht von Ost- nach Westdeutschland. Seit dem 23. September 2019 ist das 140-seitige Buch erhältlich.
„Mein Mann wollte Ende des vergangenen Jahres eine Weltreise machen und fragte, ob ich ihn begleiten würde. Doch das wollte ich nicht. Mein Lebenstraum war es, dieses Buch zu schreiben. Und so begann ich kurz nach Weihnachten, meine Geschichte nach 38 Jahren endlich zu Papier zu bringen“, erzählt Ilona Soßdorf. Ohne jemals ein einziges Wort in ein Tagebuch geschrieben zu haben, entsteht ein Buch rein aus der Erinnerung. Der Titel: Die Nachtwanderung- das Abenteuer unseres Lebens
Die heute 67-jährige Schermbeckerin wächst zur Zeit der deutsch-deutschen Grenze in Thüringen auf. Ihren Kindern möchte sie eine bessere Zukunft bieten als es das DDR-Regime in ihren Augen leisten kann. „Der Alltag in Ostdeutschland war während der Teilung geprägt von vollkommener Konformität in allen Lebensbereichen, die Menschen wurden kontrolliert und fühlten sich vom Rest der Welt abgeschnitten“, sagt die Autorin. Wie 3,5 Millionen andere Menschen wagt die Familie unter Einsatz ihres Lebens im Sommer 1981 die Flucht.
Als Urlaubsreise getarnt, wollten sie über Rumänien nach Jugoslawien und von dort in die Bundesrepublik gelangen. Ilona Soßdorf erzählt: „Wir hatten es gut in der DDR. Wir lebten in einem großen Haus gemeinsam mit den Schwiegereltern und der Schwägerin. Ich arbeitete als Buchhalterin, mein Mann war Maurer. Das Dorf war schön, jeder kannte jeden, viele Freunde und Verwandte sorgten für ein abwechslungsreiches Leben. Und dennoch: Wir wollten raus in die Freiheit, wollten reisen, unsere Meinung sagen, der Enge entfliehen.“ Heiner, ein Freund von Freunden, der in Dorsten lebte und von Zeit zu Zeit zu Besuch in die DDR kam, wurde in die Idee eingeweiht, riet jedoch zunächst einmal ab, denn: „Glaubt ihr, bei uns fliegen euch gebratene Tauben in den Mund?“. Aber die Soßdorfs ließen nicht locker. Ganze vier Jahre recherchierten sie und überlegten, wie sie den Plan in die Tat umsetzen könnten, ohne die Kinder zu gefährden. Schließlich war es Heiner, der ihnen Hilfe anbot. „Und dann kam der 13. Juli 1982 und wir verließen unser Zuhause. Lediglich Heiner und meine Schwägerin wussten von dem Plan – alles andere war zu gefährlich. Die Kinder glaubten, es ginge in den Urlaub nach Rumänien. Sie wurden erst kurz vor der Grenze über das Vorhaben aufgeklärt“, so Ilona Soßdorf.
Die Flucht misslingt, auch weil der Kompass im Handschuhfach vergessen wurde und die kleine Familie sich in der Nacht der Flucht von Rumänien nach Jugoslawien verlaufen hat. Ilona Soßdorf erinnert sich: „Wir wurden frühmorgens von einer Frau entdeckt und an den Dorfpolizisten verraten. Georg, so hieß er, wollte uns laufen lassen, aber unsere Festnahme wurde von vielen Dorfbewohnern argwöhnisch verfolgt und so konnte Georg nichts für uns tun.“ Die Familie wird kurze Zeit auf dem Flughafen in Bukarest inhaftiert und von dort durch die Staatssicherheit in die DDR geflogen. Ilona kommt nach Hoheneck ins Frauengefängnis, wird zu einem Jahr und elf Monaten Haft verurteilt. Die Kinder dürfen zu den Großeltern, wo es ihnen über die gesamte Zeit gut geht. „Sie haben das wirklich gut verkraftet. Dadurch, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung waren und die Menschen um sie herum sie sehr gut behandelt haben. Dafür sind wir natürlich sehr dankbar“, sagt Ilona Soßdorf und merklich rücken ihre Gedanken in die Zeit der Inhaftierung zurück. Im November 1982 wird die Familie von der westdeutschen Regierung freigekauft und in die BRD gebracht. Die Kinder folgen ein halbes Jahr später. Zunächst in Dorsten und später in Schermbeck bauen sie sich ein neues Leben auf, arbeiten zunächst einmal überall, wo es geht, und machen sich schließlich selbstständig. Heute ist sie dankbar, auch wenn sie weiß, dass sie viel Glück gehabt haben. „Besonders unsere einfache Herkunft hat dazu geführt, dass wir so schnell rauskamen und dass unsere Kinder bei den Großeltern leben durften. In den Verhören haben wir uns nicht einschüchtern lassen und blieben bei der Wahrheit.“ Höhere Bildungsabschlüsse, Parteimitglieder oder gar Agenten, die nach einer versuchten Flucht ins Gefängnis kamen, mussten mit wesentlich härteren Strafen rechnen. „Alles, was negative Öffentlichkeit für die DDR bedeutete war schlecht. Bei uns hatten sie nichts zu befürchten“, weiß Ilona Soßdorf.
Sechs Jahre vor dem Mauerfall hatten sie es geschafft – sie waren in Freiheit. Auf der Weltkarte in der Küche sind die Länder, die die Familie bereits bereist hat, aufgerubbelt – ein buntes Bild der Erde ist bereits entstanden.
Ihr Buch widmet Ilona Soßdorf ihrem Mann und den zwei Söhnen, die sich tapfer als Protagonisten in die Erzählung einbringen. Es ist im tredition Verlag erschienen und unter der ISBN 978-3-7497-1865-8 im Buchhandel zu erwerben.
Hintergrund:
Zwischen 1949 und 1989 verließen daher ca. 3,5 Mio. Menschen diesen Teil Deutschlands; die meisten illegal und unter Einsatz ihres Lebens. Viele starben bei ihrem Fluchtversuch. Nur etwa eine halbe Million von ihnen durfte legal in die BRD ausreisen.
Hohe Deviseneinnahmen brachte der DDR auch der Freikauf von politischen Häftlingen seit Ende 1962 durch die Bundesrepublik. Politische Gefangene wurden gegen Zahlung hoher Summen in den Westen entlassen. Mehr als 33.000 Menschen kamen so zwischen 1964 und 1989 in den Westen. Pro Häftling zahlte die Bundesrepublik anfangs 40.000 DM, später rund 100.000 DM. Außerdem wurden etwa 250.000 Ausreisewillige durch den Westen freigekauft.
Quelle: www.zeitklicks.de